Rührendes am Telefon

In diesen Tagen klingelt das Telefon bei vielen Menschen häufiger als sonst. In Zeiten von verordneter Distanz, geschlossenen Cafés und verschärften Ausgangsregeln sucht man sich notgedrungen andere Wege der Kommunikation. Die Kollegen unserer Mitgliederbetreuung wissen, wie schnell Einsamkeit in den eigenen vier Wänden aufs Gemüt schlagen kann. Erst recht, wenn man über 70 und Social Media etwas ist, von dem man sicherheitshalber die Hände lässt. Die Mitgliederbetreuung und unser Nachbarschaftsverein hatten die Idee, das gute alte Telefon mit neuem Leben zu füllen. Die MWG hat rund 3.000 Mitglieder, die älter als 70 Jahre sind. Viele von ihnen leben allein. Seit letzter Woche werden sie nach und nach angerufen, um einfach mal ein bisschen zu plaudern. Die Resonanz ist bemerkenswert.

Die meisten seien zunächst ziemlich überrascht, dass sich ihre Genossenschaft „nur mal so“ bei ihnen meldet. Schon nach den ersten Sätzen „freuen sie sich riesig“, wie es Sozialarbeiter David Köster (Beitragsfoto hinten) beschreibt. Die ersten Anrufe und die Reaktionen darauf haben sich in der MWG-Belegschaft und unter den Mitgliedern des Nachbarschaftsvereins schnell herumgesprochen. Vereinsgeschäftsführer Kevin Lüdemann: „Es haben sich bereits mehrere gemeldet, die beim Telefonieren mithelfen möchten.“

So wie unsere Auszubildende Tine Hannemann (Foto l.), die für sich eine neue Erfahrung macht: „Die Leute erzählen von ihrem neuen ungewohnten Alltag und öffnen zum Teil schon nach wenigen Minuten ihr Herz. Es ist schön zu erleben, dass man mit vergleichsweise wenig Aufwand so viel Freude bereiten kann.“ Die Mieter sind von ganzem Herzen dankbar, dass jemand an sie denkt. Vorstand Thomas Fischbeck spürt einen tiefen Wunsch nach Gemeinschaft, der offenbar noch aus den Anfängen der Genossenschaft rührt: „Es gibt eine ganze Reihe von Mitgliedern, die nach 1954 selbst mit angepackt haben, um die eigenen Wohnhäuser zu bauen. Das hat sie in Zeiten der Wohnungsnot fest zusammengeschweißt. In den Jahren des Überflusses hat das dann kaum noch eine Rolle gespielt, was viele bedauert haben. Jetzt sind Solidarität und gegenseitige Hilfe wieder in besonderer Weise da – für uns als Genossenschaft ist das ein tolles Signal.“ Auch Aufsichtsratsvorsitzende Marion Hannebohm nimmt – von der Mitarbeiterreaktion begeistert –  nun auch selbst den Telefonhörer in die Hand: „Je mehr von uns mitmachen, desto mehr Menschen erreichen wir ja.“

 „Ein paar Minuten aufrichtige Anteilnahme, Gesellschaft und Austausch am Telefon gibt den Menschen das schöne Gefühl von Sicherheit und Beruhigung,“ hat Azubi Susan Dünow beobachtet. Ebenso wie Mitarbeiter Ben Scheibner (Beitragsfoto vorn), der als junger Mann natürlich weiß, wie viel sich gerade in den sozialen Netzwerken tut: „Das geht an vielen älteren Menschen aber vorbei. Ich höre, dass die Leute zwar MDR schauen und viel Radio hören, aber trotzdem nicht wissen, an wen sie sich im Bedarfsfall vor Ort wenden sollen.“ Darauf sind die MWG-Anrufer vorbereitet – jedem liegt ein Gesprächsleitfaden mit Adressen, Telefonnummern und Ansprechpartnern zur Weitergabe vor. Mitarbeiterin Claudia Gille, die mit Begeisterung aus dem Bereich Organisationsmanagement zeitweise an die Telefonfront gewechselt ist, erzählt: „Manche würden gern wissen, wen sie seriös um Einkäufe bitten können, andere wünschen sich zur Sicherheit die Rufnummer der Corona-Hotline der Stadt.“

David Köster: „Viele der Angerufenen berichten von dem guten Gefühl, wenn sie einen freundlichen Zettel des Nachbars mit Hilfsangeboten im Briefkasten finden. Das ist gelebte Nachbarschaft, die mit Geld nicht zu bezahlen ist.“ Andere aber sorgen sich um die neuen Tricks der Betrüger, wieder andere berichten begeistert davon, dass sie ihre alten Hobbys neu entdecken. Da wird gestickt und gestrickt, gepuzzelt, gehäkelt und gemalt. Ja, es sei richtig, dass die MWG notgedrungen alle ihre Mietertreffs, die Museumswohnung sowie die Wohnungsmärkte in den Stadtteilen geschlossen habe. „Doch das heißt ja nicht, dass wir nicht mehr da sind – ganz im Gegenteil“, sagt Kevin Lüdemann. „Wir organisieren unter unseren 400 Vereinsmitgliedern gerade Telefonpatenschaften. Eine andere Gruppe will jetzt sogar Atemschutzmasken nähen.“

Neben diesem zusätzlichen Angebot der Genossenschaft ist auch die MWG-Stiftung für die Menschen aktiv. „Gerade für Notsituationen wie diese haben wir 2014 unsere Stiftung gegründet und über die Jahre Kapital angesammelt“, sagt Thomas Fischbeck: „Das ist die Zeit, um bedürftige MWG-Mitglieder, die durch Corona in eine Notlage geraten sind, zu unterstützen.“ Übrigens war die Stiftung ebenfalls nach einer Katastrophe – einem Großbrand in Nord – von Mitgliedervertretern initiiert worden. Auf ihrer Internetseite hat unsere Stiftung Ideen zur Freizeitgestaltung für Familien gesammelt – vom Lesen über den Filmabend bis hin zum virtuellen Museumsbesuch ist für jeden etwas dabei.